Fahrrad statt Fachgespräche
WM-Tagebuch: Durchatmen im Hotel am wettkampffreien Vormittag
Gestern war ich mal wieder in Venedig. Eher zufällig. Hat sich grad so ergeben.Man muss nur am Khalifa-Stadion links rum über die Straße gehen, und schon ist man da. In der Villaggio-Mall schippert ein Gondoliere per Elektromotor durch den Kanal, ein paar Brücken Venedigs sind nachgebaut, auf einer kann man sogar ans Büffet gehen. „All you can eat“ für umgerechnet 15 Euro. Nein danke, nicht für mich. Ich kaufte mir im „Carrefour“ Bananen, Äpfel und Pflaumen. Von den Philippinen, aus Italien und Marokko – alles „unser“ Preisniveau.
Ich schickte ein Bild an die Familien-Gruppe, mein ältester Sohn Tim wähnte mich in Las Vegas. Dort sähe es genau so, schrieb er. Stilecht ist das Ganze ja nicht: Rollt da doch ein kleiner roter Doppeldecker-Bus durch die Mall, auf dem steht: „Doha-Train“ („Doha-Zug“).
Ach ja, die Katari. Schon lustig irgendwie. Auf jeden Fall sind sie sehr, sehr freundlich, aufmerksam und zuvorkommend. Interessant fand ich die Aussage von Kathleen Friedrich, der Ex-Mittelstrecklerin, die schon lange für die ARD arbeitet, die in der Mixed Zone (man hat schon sehr viel Zeit beim Warten auf Athleten-Interviews) davon berichtet, wie wohl sie sich als Frau in Doha fühle. Total respektiert und frei, das habe sie nicht erwartet.
Qatar gilt als ein besonders konservatives Emirat, es sollen gut 90 Prozent der einheimischen Frauen verschleiert sein. Die Abaya als Schutzhülle vor nicht gewünschten Blicken, sie gehört für viele dazu. Diese Frauen heben sich als Einheimische bewusst ab von den „Gastarbeiterinnen“. Neben mir lief gestern auch eine junge Frau mit Kopftuch auf dem Laufbahn im Fitnesscenter des Hotels. Ich denke mir gar nichts dabei, warum auch?
Nun, ich hatte gestern mal ein bisschen langsam gemacht. Gemütlich gefrühstückt, man trifft jeden Morgen einen anderen deutschen Kollegen, was zwangsläufig zu Fachgesprächen führt. Muss das sein?, denke ich mir da, kann man nicht auch mal ein bisschen privat sein. Mit Thomas Treptow, dem Kollegen der „Freien Presse“ in Chemnitz, gelingt das ganz gut. Er ist wie ich auch ein „Dino“ unter den deutschen Leichtathletik-Journalisten. Die Schar derer bröckelt, ich bin mittlerweile der Dienstälteste. Wenn dann aber ein Kollege um Acht mit der Meldung hereingestürmt kommt, habt ihr gehört, Alberto Salazar gesperrt, gehen bei manchen so richtig die Lichter an (man lese dazu den Kommentar).
Ich zog mich auf mein Fahrrad zurück, kurbelte unter meiner Spotify-Hitliste (Chasing Cars, Perfect und so, bin eher der Musik-Romantiker) auf den Kopfhörern dreißig Minuten herunter, stemmte Gewichte, drehte wieder ein paar Runden im Pool. Im Hotel schrieb ich zwei Texte. Und wie fast immer um die gleiche Zeit, zwischen 11 und 11.30 Uhr, kam Hridi herein, ein Jungspund aus Bangladesh, und fragte, ob er saugen kann. Klar, kann er, antwortete ich ihm freundlich. Er ist ein bisschen neugierig. Ich gebe ihm meinen Wäschebeutel mit zwei Hemden und meinen Shorts mit. Drei Stücke sind pro Tag frei.
Erstmals bei einer WM sind keine Vormittag-Wettkämpfe. Sie ahnen es: wegen der Hitze. Sie hat eben doch was Gutes, zumindest für uns Journalisten.
Zugehörige Wettkämpfe
Datum | Name | Ort |
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27.09.–06.10.2019 | Weltmeisterschaften 2019 | Doha (Katar) |
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